Textbeispiel

Susanne Sölter

Tinos, eine windige Mischung

"...Posidonas...!" - was er dem Meeresgott vom Deck der Fähre Aphroditi entgegenschrie, verschluckte der Wind. War’s der Ouzo - oder wollte jener Grieche vor weiblichen Touristenaugen mit der Antike kokettieren? Egal, auf den Kykladen steht die Uhr in der Tat im Sommer auf Sturm, wenn Tinos Mittelpunkt griechischer Wallfahrer und von allen Kykladen am windigsten ist.

Aiolos läßt dann den Nordwind herunterfegen. Abgesehen von angeschwemmtem Wohlstandsmüll aus dem Meer, schmirgelt er die Haut von Strandnixen und hat gar so viel Macht, die Ferien unfreiwillig zu verlängern: Hoher Wellengang läßt die Schiffe dann nicht ausfahren - Flughäfen gibt’s nur bei den Nachbarn.

Wer bürgerliche Zwänge vergessen kann, begegnet einer bunten Mixtur aus Alt und Neu, Glaube und Aberglaube, Religiosität und Kommerz. Dieses Geflecht hat einen dominanten Faden: Die griechisch-orthodoxe Heilsbringerin Panajia. Sie ist Ziel der Pilger und zugleich die "Zwillingsschwester" der Maria, einem Erbe aus venezianischer Vergangenheit, die Tinos katholisch "färbte". Die Sprachmischung ist eher monochrom, weil hauptsächlich Einheimische herkommen, auch zu Familienfest, Hochzeit und Taufe. Selten hört man Deutsch, manchmal Schweizerisch oder Französisch.

In der Antike war Posidonas (Poseidon) auch Heilsbringer und "spielte im Handelszentrum Tinos auch als Arzt eine Rolle." Petros Dellatolas, ein bekannter tiniotischer Bildhauer, kennt sich aus in der Mythologie. "Für günstige Winde nach Delos, dem benachbarten Heiligtum, beteten einst Seefahrer und Kaufleute."

Die Rolle hat quasi Tinos übernommen, wo sich eine skurrile Verschmelzung aus Kerzen, Kitsch und Devotionalien in den Auslagen der "Klingelingstraße" präsentiert. Giros- und Weihrauchduft atmet ein, wer auf der Pilgerstraße die Gläubigen auf Knien zur Evangelistra (Verkünderin) rutschen sieht. In der Wallfahrtskirche beten sie für Glück, Gesundheit und Kindersegen. Die heilige Panajia-Ikone soll hier verborgen gewesen sein, die sich einst im Traume der Nonne Pelagia zeigte.

Treppauf-treppab wird der Wanderer oben durch Bougainvillea-umwucherte Tunnel und Bögen geleitet, durch die er quasi von oben das Meer im Passepartout vor Augen hat. Unten begegnet er Schafen und Zicklein, die zwischen alten Taubenhäusern nach Futter suchen; betäubend verströmen Kräuter ihre Düfte, wie Thymian und wilder Majoran, im Spätsommer tun es reife, aromatische Feigen. Im Juni/Juli kann man auch von saftig-roten Früchten des Maulbeerbaumes naschen. Brombeeren ähnlich, schmecken sie süß-aromatisch, deren sofort hervorquellender, blutroter Saft sich als nachhaltige Naturfarbe entpuppt. Wenn in diese archaischen Landschaften plötzlich Zeus herunterstiege - man würde sich nicht wundern.

Häufig meint man, die Zeit stehe still, etwa auf solchen Dorfspaziergängen - aber man spürt auch Trauer angesichts zerfallender Häuser; manche jedoch werden von Enkeln und Urenkeln wieder aufgebaut - nicht immer stilvoll. Manche weiße Betonnachbauten lassen erkennen, daß kluge Erkenntnisse einfach in den Wind geschlagen wurden... Ja, der bestimmt hier die Spielregeln (kanonas) zwischen Natur und Mensch - wer sie nicht einhält....aber das ist eine andere Geschichte.

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